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Was die Erinnerung prägt

In Bayern ist seit 2019 am zweiten Oktobersonntag Großelterntag. Dazu erzählen wir die Geschichte von Ida Pfeifer: Eine Frau, die sich stets zurücknahm, und doch in einem Moment radikal und unvorsichtig handelte – weil sie im Glauben Halt und Kraft fand.

„In der Gegenwart guter Menschen zerbröckeln Hass und Hader. Bei ihnen weiß man sich geborgen. Sie wirken versöhnend. Gute Menschen sind wie Sterne. Sie leuchten, auch wenn sie längst erloschen sind.“ Mit diesem – leicht abgewandelten – Zitat des unterfränkischen Missionars Adalbert Ludwig Balling verbindet Gertrud das Andenken an ihre Großmutter.

Der Kalenderspruch liegt auf dem Küchentisch, neben vergilbten Fotos, kleinen Gemälden, dem Bild einer Muttergottes und mehreren Schriftstücken. Nochmal so viel ist auf dem Fensterbrett platziert. Die Erinnerungen stapeln sich, vor Ort und im Kopf, noch Jahrzehnte nach Ida Pfeifers Tod. „Ich habe nie wieder eine so überzeugend gute Frau getroffen“, ist sich deren Enkelin sicher. Deshalb möchte die ehemalige Förderschullehrerin aus Münnerstadt die Geschichte ihrer Großmutter an nachfolgende Generationen weitergeben – auch wenn sie den eigenen Nachnamen nicht öffentlich lesen will.

Ida Pfeifers Biografie ist die einer typischen Landfrau in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts: Geboren 1896 als Ida Fries in eine katholische Familie, aufgewachsen in Sommerau im heutigen Landkreis Miltenberg, verheiratet mit dem 20 Jahre älteren Landwirt Eugen Pfeifer, Mutter von vier Kindern, zeitlebens mit landwirtschaftlicher Arbeit, Haushalt und Kindererziehung beschäftigt, den Lebensabend im Haus von Tochter, Schwiegersohn und Enkelkindern in Zellingen verbracht, und dort 1977 verstorben.

Doch es gibt tiefe Wunden. Einen Bruder verlor Ida Pfeifer im Ersten Weltkrieg, dem Zweiten fielen zwei Söhne zum Opfer, der dritte kehrte schwer kriegsversehrt zurück. Ihr Schwager erlitt beim Bombenangriff auf Aschaffenburg in den Trümmern seiner Kirche einen Herzinfarkt. An ihrem Glauben zu zweifeln kam für sie jedoch nie in Frage: Beten und arbeiten haben ihren Rhythmus zeitlebens bestimmt, erinnert sich die Enkelin. Es war ein leidgeprüfter, aufopfernder Glaube.

Die Diktatur hinterlässt tiefe Wunden

Ida Pfeifer selbst verbrachte im Jahr 1934 mehrere Wochen im Gefängnis, weil sie Hitler bei der inszenierten Volksabstimmung vom 19. August nicht zum Staatsoberhaupt des Deutschen Reiches bestimmen wollte. Schließlich hatte sie intensiven Kontakt zu zwei Priestern aus der Familie, mit denen viel und kritisch über die politische Lage gesprochen wurde, und auch Kontakt zu Jüdinnen und Juden. Das war gefährlich, vor allem auf dem Dorf. Dennoch legte sie ihrem Wahlschein einen Zettel bei, auf dem stand: „Einen Massenmörder wähle ich nicht, nein“ – ein Hinweis auf die brutalen Morde der Natio­nalsozialisten im Zuge des sogenannten Röhm-Putschs kurz zuvor.

Ein eifriger Nazi glaubte Ida Pfeifers Handschrift zu erkennen und denunzierte sie. So fiel es der Gestapo leicht, die Schreiberin ausfindig zu machen und nach Aschaffenburg in die Schutzhaft zu bringen. Weitere juristische Schritte gegen sie gab es zwar nicht, weil nationalsozialistische Verwaltung und Justiz in der Landfrau keine Gefahr sahen. „Doch dass sie bereits 1934 so verfolgt werden konnte, ist erschreckend“, meint die Enkelin heute. Zeitlebens konnte Ida Pfeifer nur in Begleitung eine Wahlkabine betreten, am ganzen Körper zitternd. Ihre damalige Justizakte lagert, inklusive Protestnotiz, noch heute im Bamberger Staatsarchiv.

Das Alltägliche prägt das Andenken

Heute erinnern Gertrud nicht nur Dinge im Haus an die Großmutter, sondern auch die Blumen im Garten, die Ida so mochte: Asparagus, Fleißige Lieschen, Löwenmäulchen, Fuchsien. Die Geranien hatten ihr einmal eine Auszeichnung beim Wettbewerb „Unser Dorf soll schöner werden“ eingebracht. Das Preisfoto von damals ist heute ebenso in Sichtweite wie die Pietà, die einst die Enkelin der Oma mitgebracht hatte: „Vom Heiligen Jahr 1975, direkt aus Rom. Diese Muttergottes war uns beiden sehr wichtig und ist es mir noch heute.“

So bestimmt das Alltägliche, Zurückgezogene, im eigenen Glauben Ruhende das Andenken an die Großmutter – und weniger die eine politische Tat samt Konsequenzen. Ob die Enkelin die gesammelten Erinnerungen weiter verarbeiten wird? Womöglich. Doch nun ist erst einmal die Zeit reif, die Fotos und Dokumente von einst zu sortieren und zu archivieren, die im Haus verteilt sind; und sie dann zum gegebenen Zeitpunkt an die eigenen Nachkommen weiterzureichen.

Sebastian Haas

Enkelin Gertrud hat selbst eine Geschichte zu ihrer Großmutter Ida Pfeifer verfasst und auf ihrer Webseite – unter dem Künstlernamen Franka Frieß – veröffentlicht: franka-friess-autorin.jimdofree.com