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Wort zum Sonntag 13.10.2024

Thomas Perlick, Pfarrer i. R., Bad Brückenau

Die Partitur des Heiligen

Manchmal ist die Sprache eine Königin der Nacht. Dann holt sie ihre Worte von weit her, zum Beispiel aus der Liederschatzkiste des 17. Jahrhunderts: „Hinunter ist der Sonne Schein, die finstre Nacht bricht stark herein.“

Von Nikolaus Herrmann 1560 gedichtet, von Melchior Vulpius 1609 in Töne gesetzt. Ich liebe diese singende Sprache. Sie weiß von dem Unverfügbaren, das in und über den Dingen ist, das Heilige, das wir nur buchstabieren können. Es hat sein eigenes Versmaß. Du musst nicht verstehen. Es genügt zu staunen. Die Lyrik des evangelischen Gesangbuches erzählt von Lichtern, die nachts schlafen. Sie sterben nicht. Sie haben keine Friedhöfe im Dunkel. Sie teilen den Schlummer der Menschen, denen es wohl tut, nichts mehr durchschauen zu müssen.

Wenn die Lichter schlafen, dann wachen die Finsternisse. Sie regen sich über den Äckern und bedrängen die Fensterscheiben. In den Häusern ruhen die Kinder im Frieden und in der Not. Die Nacht ist innen eine ganz andere als außen. In den Stuben liegt sie wie Kehricht herum. Auf den Wiesen bekommt sie Füße. Über den Baumkronen wohnt sie als stumme Königin.

Der Mond ist das Ewigkind der Nacht. Er hat sein Licht von der großen Sonne geliehen. Bei mir und meinem Gott ist es genauso.

Drüben in der anderen Erdkugelhälfte spielen die Kinder Afrikas in der staubigen Steppe, die wunderbar faltige Großmutter wartet auf Regen und die sieben Gedanken der Krieger sehnen sich nach Frieden. „So sind wohl manche Sachen, die wir getrost belachen, weil unsre Augen sie nicht sehn.“

In diese königliche Sprache verliebe ich mich immer neu. Nur: Wird sie untergehen mit dem heiklen Glauben, dem sie sich verdankt und den Melodien, auf denen sie tanzt? Wie buchstabiert sich eine Welt ohne dieses heilige Stammeln und welcher Himmel musiziert dann noch in ihr?

„Hinunter ist der Sonne Schein“ steht als vierstimmiger Satz im Gesangbuch. Ich mag den Bass. Er ist leicht zu erlernen. Aber vielleicht kannst oder magst du nicht singen? Macht nichts! Du findest das Lied im Irrgarten Internet - zum Beispiel in der grandiosen Aufnahme des Psycho-Chores der Uni Jena. Jetzt musst du dich nur noch hineinstaunen. Mir brachte das ein paar glückliche Tränen ein, zum Beispiel bei: „Leucht uns, Herr Christ, du wahres Licht, lass uns im Finstern tappen nicht.“

Plötzlich wird mir ganz federflugleicht zumute. Ich spüre: Das wird in keiner Finsternis untergehen. Das stirbt nicht in den Flachgewässern der Sprache. Es ist die Partitur des Heiligen in der Welt.

Thomas Perlick, Pfr. i.R., Bad Brückenau